Pfaffenhofener Kurier 23.03.2012
„Ihnen muss aber jetzt langweilig sein“, meinte der damalige evangelische Pfarrer Helmut Gottschling vor rund zehn Jahren im Gespräch mit Sieglinde Wiegand. Da hatte sie zwar nicht mehr als SPD-Stadträtin kandidiert, aber schon eine neue Aufgabe im Visier, die sie voll und ganz beanspruchen würde.
Auslöser für die Idee, die Pfaffenhofener Tafel ins Leben zu rufen, waren zum einen Berichte in den Medien, letztlich gab aber ein persönliches Erlebnis den entscheidenden Anstoß.
Als Sieglinde Wiegand den Ilmweg entlang radelte, sah sie, wie ein älterer Mann ein Stück Breze aus einem Abfallkorb fischte und aufaß. „Es gibt hier Menschen, die Essen brauchen – das ist mir da schlagartig bewusst geworden und hat mich sehr betroffen gemacht“, sagt sie heute im gut bestückten und organisierten Tafelladen.
Rund 180 Kunden und somit etwa 400 Personen bekommen hier wöchentlich für einen Euro eine auf die jeweilige Familiensituation zusammengestellte Lebensmittelration. Den Vorstand der Pfaffenhofener Tafel hat Sieglinde Wiegand jetzt an ihre Mitstreiterin Gudula Langmaier weitergegeben. „In der zweiten Reihe“ macht sie weiter.
Standort-, Träger- und Sponsorensuche, Vereinsgründung und das Gewinnen von vielen weiteren ehrenamtlichen Helfern und ein Berg von Organisationsarbeit waren nötig, um die längst unverzichtbare Anlaufstelle für bedürftige Mitmenschen am Draht in die Tat umzusetzen. Vorher hatten sich Wiegand und ihr Team gründlich über die Arbeitsstrukturen in zahlreichen anderen Tafel-Stationen informiert und dort „sozusagen mit Augen und Ohren geklaut“. Eröffnet wurde 2003; hinzu kamen später Ausgabestellen in Hohenwart, Reichertshausen, Rohrbach und Wolnzach. Alle Supermärkte im großen Umkreis sowie Bäckereien, Metzgereien und Obst- und Gemüseläden spenden inzwischen für die Tafel Lebensmittel, die aus dem Wirtschaftskreislauf herausfallen – das heißt, sie werden nicht mehr verkauft, obwohl sie qualitativ einwandfrei sind.
Wiegand führt durch das blitzsaubere Tafelhaus und zeigt im Kühlcontainer auf dem Hof ein Beispiel: Palettenweise stapelt sich dort Vanillepudding mit Sahne, haltbar bis Mitte April. Versehentlich haben die Becher bei der Abfüllung einen Deckel bekommen, der sie als Fruchtjoghurt ausweist, und im Geschäft kann man sie deshalb nicht anbieten. Eines ist für Wiegand besonders wichtig: „Brot, Milch, Obst und Gemüse sind Grundnahrungsmittel, die in jeden Warenkorb gehören, und die möchte ich immer da haben. Wenn nicht, werden sie dazugekauft.“ Saisonprodukte wie Schokohasen oder Nikoläuse, die zwei Wochen nach den Feiertagen in die Regale kommen, sind dagegen nur „ein schöner Nebeneffekt“.
Die Hemmschwelle ist immer noch da, das weiß Wiegand genau: „Es würden sicher noch mehr Kunden kommen, aber wer gibt schon gerne zu, dass er bedürftig ist“ Arbeitslose bilden den größten Teil der Kundschaft, gefolgt von Senioren, die mit ihrer winzigen Rente nicht über die Runden kommen. „Und die Altersarmut wächst, das merkt man deutlich“, sagt Wiegand. Wenn das Familieneinkommen kaum für den Lebensunterhalt reicht, müssen auch noch so bescheidene Wünsche von Kindern ganz weit hinten zurückstehen. Ein besonderes Anliegen war für Sieglinde Wiegand daher die Einführung der mit Spenden finanzierten Geburtstagsgutscheine von 20 Euro für Kinder „von null bis 18 Jahren“.
Die Tafelarbeit ist ein Vollzeitjob, und in der knapp bemessenen Freizeit hat sich für die gelernte Zahntechnikerin schon seit vielen Jahren ein festes Schema bewährt: „Wenn ich Ruhe habe, lese ich – am liebsten gute Krimis und gute historische Romane – und wenn ich gestresst bin, stricke ich. Dabei werde ich ruhig und kann Energie ablassen; die fließt dann in die Strickarbeit.“ Ganze Berge von Wolle hat sie in ihrem Leben schon verarbeitet. Tausend Paar Socken? „Ha, das reicht längst nicht!“ Mit ihren Sockenstrickkünsten hat Sieglinde Wiegand auch andere Tafelfrauen angesteckt, und für die Sponsoren und ihre Helfer, die im Kalten arbeiten – Marktfrauen oder Personal in Kühlhäusern – gibt es zu Weihnachten ein selbst gemachtes Dankeschön: etwas Warmes für die Füße.
Von Tina Bendisch